Von Thomas Stechert
„Kein Mensch muss müssen.“ Hat Lessing gesagt. Vor über 300 Jahren. Und das kluge Dichter-Wort aus der Zeit der Aufklärung ist bis heute aktuell – als befreites Lebensmotto selbstbewusster Zeitgenossen unserer Gegenwart. Auch selbst ist dieser geniale Geist Gotthold Ephraim Lessing bis in unsere Tage allgegenwärtig – landauf und landab in der Schule zum Beispiel, wo sein Toleranz-Drama „Nathan der Weise“ gelesen wird (daraus stammt übrigens das eingangs erwähnte Zitat); oder im Theater, wo „Emilia Galotti“ und andere Stücke aufs Neue und Neue inszeniert werden; und eben in Wolfenbüttel, wo Lessing die letzten elf und wohl wichtigsten Jahre seines Lebens verbracht hat (1770-1781).
Kurzum, in Wolfenbüttel, das sich mit berechtigtem Stolz Lessingstadt nennt, kommst du an dem „gelehrten Abenteurer“, so Lessing über Lessing, nicht und nirgends vorbei. Dafür musst du nicht einmal extra Lessings einstiges Wohnhaus zwischen dem roten Welfenschloss und der altehrwürdigen Herzog August Bibliothek besuchen, wo du sogar eine echte Locke des Dichters bestaunen kannst. Vielmehr fühlt es sich so an: Lessings fortschrittlicher Geist der Toleranz, der Weltoffenheit und der Aufklärung ist hier lebendig, ist der Atem dieser Stadt. Genau das macht den besonderen Charakter, den Charme Wolfenbüttels und seiner Bewohnerinnen und Bewohner aus. Von den rund 1.000 Fachwerkhäusern ganz zu schweigen, die dafür eine einzigartige Kulisse bilden.
Und sonst in Wolfenbüttel? Gegenfrage: Was darf’s denn sein? Eher Kultur oder Kulinarik, Sport oder Spaß? Was auch immer, in Wolfenbüttel wird jeder Besucher fündig. Und das soll kein leeres Versprechen sein.
Kreuz und quer durch die Stadt
Willst Du Kultur? Dann steht Dir eine stattliche Reihe musealer Einrichtungen offen, zum Beispiel das AHA-Erlebnismuseum für speziell Kinder, oder das Gärtnermuseum (die Residenzstadt Wolfenbüttel war einst auch eine Gärtnerstadt und ist bis heute eine Bischofsstadt, aber das nur nebenbei…). Dann wäre da noch, um einen dritten Vorschlag zu machen, das Schloss Museum, wo Du am Hofe bis ins ehemalige herzogliche Schlafgemach vorgelassen wirst, selbst die herrschaftliche Toilette darf besichtigt werden. Nur nicht erschrecken, wenn’s plötzlich klingelt…, das wird nur das Pausenzeichen des benachbarten Gymnasiums im Schloss sein – Geschichte und Gegenwart Tür an Tür.
Für einen abendlichen Kultur-Trip nach Wolfenbüttel empfiehlt sich das Lessingtheater, das einzige noch erhaltene und bespielte Lessingtheater in Deutschland, 1909 eröffnet. Kleinkunst- und Musikbühnen gibt’s natürlich auch, ebenso wie renommierte Galerien mit wechselnden Ausstellungen.
Wolfenbüttel kannst Du auch sportlich nehmen. Sei es bei einem ausgedehnten Spaziergang über die grünen Wallanlagen, beim Kanufahren auf der Oker, beim Erlebnisgolf oder beim Discgolfen. Zum Erfrischen geht es dann in den Fümmelsee oder zu jeder Jahreszeit ins Allwetterbad, dem Stadtbad Okeraue mit Cabriodach.
Hast Du eh gern ein Dach über dem Kopf, willst aber trotzdem keine ruhige Kugel schieben: In der modernen Bowling-Base im Ortsteil Halchter gibt es auf 1500 Quadratmetern Fläche jede Menge Unterhaltung – zehn Bowlingbahnen, Billardtische, Dart, Kicker, Flipper. Und wenn Du Dich traust, gehst Du auf die Bühne zum Karaoke.
Gut essen, gut trinken
Klar, irgendwann lässt der kleine oder große Hunger nicht mehr länger auf sich warten. Wie wäre es einmal mit richtiger Lagerfeuer-Romantik? Das Essen muss allerdings selbst zubereitet werden – im Stockbrot-Restaurant „Lucis Stöckchen Grill“ direkt beim neuen Bowlingcenter in Halchter. Eine feurige Angelegenheit: Der Brotling wird am Tisch auf offener Flamme gegart, und dazu gibt’s eine Vielzahl an Dips und Füllungen.
Überhaupt, die Wolfenbütteler Gastroszene ist international aufgestellt und serviert von der Pizza auf die Hand bis zur hochwertigen Gourmetküche alles, was Herz und Bauch begehren. Eine originelle Stärkung wäre auch so ein satter Spezialburger mit Poutine aus einem original Airstream-Anhänger.
Und wer nicht gerade bei einem Brau-Kursus selbst frisches Bier herstellt, der beschließt sein kulinarisches Abenteuer vielleicht gern mit jenem weltberühmten Likör aus 56 geheimen Kräutern. Genau, Jägermeister. Denn der kommt aus Wolfenbüttel und trägt auf seinen zumeist grünen Flaschen den Namen der Stadt abermillionenfach in alle Welt. Wie eingangs erwähnt: Nichts muss. Aber alles ist möglich…
Für den Herbst und Winter hat Wolfenbüttel wieder eine Vielzahl besonderer Veranstaltungen und reizvoller Angebote auf dem Zettel. Sicherlich, ähnliche Verlockungen gibt es in anderen Städten ringsum ebenfalls. Aber du willst doch auch mal etwas Neues entdecken?! Also: Wolfenbüttel.
Auto, Bahn, Bus oder Fahrrad
Keine Autostunde braucht es von Braunschweig oder Wolfsburg, von Peine, Gifhorn oder Helmstedt, von Salzgitter oder Goslar, schon bist du mittendrin, in der „Toskana des Nordens“. Mit Bahn und Bus ist Wolfenbüttel ebenso recht komfortabel zu erreichen, mit dem Fahrrad natürlich auch. Und dann? Als Einstieg empfehlen wir den Wolfenbütteler Wochenmarkt – vor der Kulisse der Fachwerk-Rathauses und weiterer historischer Gebäude wie stattlichen Hofbeamtenhäusern lässt es sich hier gemütlich schauen und kaufen und gleich vor Ort schlemmen. Nicht wundern, wenn immer mal wieder eine langgezogenes „Dankeschööön“ quer über den Marktplatz schallt. Dann bedanken die fröhlichen Damen am Grill von Piskes Kult-Bratwurstbude bei ihrer Kundschaft. Auch das ist ein Wolfenbütteler Charakterzug – ein harmonischer Dreiklang von Lebensart, Lebenslust und Lebensfreude.
Ein anderer Einstieg in Wolfenbüttel, wenngleich ernster Natur, wäre das Gefängnis. Das Dokumentationszentrum auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt zeigt eine multimediale Dauerausstellung mit dem Titel „Recht. Verbrechen. Folgen. Das Strafgefängnis in Wolfenbüttel im Nationalsozialismus“. Im 75. Jubiläumsjahr unseres Grundgesetzes gibt es passend dazu, gewiss im Sinne Lessings, die Veranstaltungsreihe „Für Freiheit und Demokratie – gestern, heute, morgen“ im Wissensort.
Zurück in die geschäftige Gegenwart geht es gleich gegenüber in der „neuen“ Fußgängerzone. Die Bummelmeile ist gerade erst aufwändig saniert und modern aufgefrischt. Die letzten Bauarbeiten stehen nun vor dem Abschluss. Entlang der Langen Herzogstraße bis zu den Krambuden und – bloß nicht versäumen – in den Gassen links und rechts findest du als Besucher auf kurzen Wegen einen Mix von nationalen und internationalen Stores sowie erfreulich vielfach inhabergeführten Boutiquen und Geschäften. Und alle paar Schritte: Cafés, Eisdielen, Kneipen, Restaurants. Noch dieser Tipp: Immer mal an den Fassaden hinaufblicken – das eine und andere der schmucken Fachwerkhäuser bewundern.
Wie in diesem Zeitenwandel überall in den Innenstädten ein Leid, so gibt es auch in Wolfenbüttel, was nicht zu verhehlen ist, neben den alteingesessenen Traditionsgeschäften hin und wieder Leerstände. Doch in der Geschäftswelt weiß man offenbar die Anziehungskraft der Lessingstadt auf Kundschaft zu schätzen, und so füllen sich leere Schaufenster glücklicherweise relativ rasch wieder mit neuen Angeboten und kreativen Überraschungen.
So bereichern jüngst neue Modegeschäfte nebst Wohnaccessoires das Angebot.
Immer noch nicht alles gesehen
Nun sind wir schon einmal kreuz und quer durch die Stadt und die nähere Umgebung geschlendert, aber haben noch nicht, längst noch nicht alles gesehen. In der „Krummen Straße“ in der Altstadt waren wir noch nicht, wo sich ein verwinkeltes und verschachteltes Fachwerkhaus ans andere schmiegt. Und die mächtige Marienkirche BMV (Beatae Mariae Virginis) haben wir noch gar nicht gesehen, der weltweit erste bedeutende protestantische Großkirchenbau, wo im Übrigen einst Hofkapellmeister Michael Praetorius bestattet wurde, wohl jedermann bekannt durch sein Weihnachtswerk „Es ist ein Ros’ entsprungen“.
Und vorm Portal des ehemaligen Gasthauses „In der Kron von Spanien“ haben wir ebenfalls noch nicht gestanden. Dort hat nicht nur der König von Spanien logiert, sondern auch der berühmt-berüchtigte Italiener Giacomo Casanova. Der „größte Liebhaber aller Zeiten“ hat in Wolfenbüttel nach eigenem Bekunden die glücklichsten Tage seines Lebens verbracht. Wenn das kein Stoff für wilde Spekulationen ist.
Und wir haben auch noch nicht von Wilhelm Busch erzählt. Der Dichter und Maler war oft in Wolfenbüttel bei seinem Bruder, einem Konservenfabrikanten, zu Besuch. Und in Wolfenbüttel soll der Schriftsteller auch, so sagt man zumindest, die Vorbilder für „Max und Moritz“ gefunden haben.
Die nächste Möglichkeit für eine individuelle Entdeckungstour durch Wolfenbüttel bietet sich übrigens jetzt gleich Mitte September beim Stadtgrabenfest. Rund um den Ententeich gibt es allerlei Kleinkunst, derweil die Besucher eigenes Picknick machen können. Und zur Nacht gibt’s einen magischen Lichtzauber bei einer Lasershow.
Spätestens zum Jahresausklang sehen wir uns, auf dem Weihnachtsmarkt vor der illuminierten Kulisse des Schlosses, stimmungsvoller kann die Adventszeit nicht genossen werden.
„Kein Mensch muss müssen“ – gern bewahren wir Lessings Worte. Mit dieser Einschränkung: Wolfenbüttel MUSS man gesehen haben. Unbedingt.