In Braunschweig läuft, was in Wolfenbüttel entstand: Nathan der Weise von Lessing. Die Inszenierung lohnt sich. Davon konnte ich mich bei einem Besuch im Großen Haus des Staatstheaters überzeugen, bei dem auch ein kurzer Blick hinter die Kulissen möglich war.
Nach der Aufführung hatte ich einen Traum. Wie am Sonntag, an dem der Nathan das erste Mal nachmittags gegeben wurde, warte ich im Kassenraum des Staatstheaters. Ellen Brüwer, die persönliche Referentin der Generalintendantin holt mich aus dem Kassenbereich ab. Vorbei an den Kontrolleuren geht es durchs Foyer. Der Schritt ist gedämpft, die ersten Besucher vergleichen nervös und gespannt Karte und Aufschrift über den Türen. Parkett – links oder rechts? Welche Reihe passt zu welcher Tür?
Wir haben noch eine Dreiviertelstunde Zeit, und ich kann einen Blick hinter die Kulissen werfen. Ehe ich mich versehe, bin ich bei Lukas Pergande gelandet. Der Regieassistent zeigt mir geduldig, was es zu sehen gibt. Die Requisiten etwa – ein Fächer, Geld und ein altes Büchlein. Wir eilen durch die Maske, zum Inspizienten, der schon konzentriert vor seinen Monitoren sitzt.
Durch schmale Gänge geht es über die Seiteneingänge auf die Bühne, die hinter vielen Türen liegt. Es ist enger, als ich dachte. Wer auf die berühmten Bretter gelangen will, muss vorbei an der Soufflage – nicht Souffleuse, wie ich lerne. Das Licht geht plötzlich aus und wie ein Kanonendonner kündigen sich Kriegsgeräusche an. Ein Soundcheck. Alles ist wie an dem Sonntag.
Christen, Juden und Muslime
Wir stehen wieder hinter der Bühne, die sich vor uns steil aufbaut und den restlichen Bereich zu einem dunklen hohen Raum macht. Zwei Schneisen geben den Blick zum Zuschauerraum frei. Im Traum wird es dunkel. Durch die Spalte im schwarzen Vorhang kommen Menschen. Immer mehr Menschen. Einige erkenne ich, obwohl nur wenig Licht den Weg hierher findet. Da ist Salam mit ihren dunklen offenen Haaren aus meinem Integrationskurs und Jaber mit dem stillen Lächeln.
Jihad blickt suchend um sich, unsere Blicke treffen sich, und er grüßt mich. Carsten Richter mischt sich unter sie und spricht mit,… Das ist Hiltrud Behr. Lauter Wolfenbütteler drängen herein. Ist da nicht der Bürgermeister? Aber auch Fremde, die ich noch nie gesehen habe. Vor mir steht ein klein gewachsener Mann. Ich habe ihn nur auf Bildern betrachten dürfen – er starb zu früh. Und doch weiß ich sofort: Es ist mein Großvater. Er fingert wie alle anderen in einer Kiste und holt sich Bänder heraus. Ein blaues und ein rotes, und erwickelt sie sich um den Arm. »Blau steht für jüdisch, Rot für christlich. Du weißt doch, dass mein Vater ein Jude war«, lächelt er mir zu.
Eine Rose für Nathan
Wie auf Befehl bindet sich jeder still seine Binde um. Natürlich nimmt Jaber, der Syrer die Rote. Der einsame Christ. Und Jihad und Salam eine grüne. Bin ich Christ? Ich wähle die rote Binde. Dann stehen alle ruhig da und klettern die Eisentreppen hoch. Das ist die Bühne. Lukas Pergande und die Bühnenarbeiter schauen so, als sei das selbstverständlich. Ich schließe mich dem Fluss an und wir gelangen auf drei Treppen, gehen die Stufen hinunter in Richtung Zuschauerraum. Eine Prozession.
Auf der letzten treten wir aber nicht an die kleine Mauer zur Vorbühne, sondern kommen in Wolfenbüttel an. Zwischen Schloss, Zeughaus, Bibliothek und Lessinghaus stehen wir alle vor dem Denkmal des weisen Nathan. Wie der erste ihm eine Rose zu Füßen legt, bemerke ich, dass auch ich eine in der Hand halte. Rose wird auf Rose gelegt und ein Blütenberg wächst. Hat die steinerne Figur ganz leicht ihren Kopf geneigt, als ich ihr die Meine verehre?
Freigeist Lessing fordert die Kirche heraus
Der Nathan in Braunschweig. Da muss man als Wolfenbütteler in die Nachbarstadt pilgern. Wo, wenn nicht bei »echt lessig« wäre auf dieses Ereignis hinzuweisen? Denn hier, in der alten Residenz arbeitete er das dramatische Gedicht aus. Lessing, den Freigeist hatte es hart getroffen. Seine geliebte Frau war gestorben und im Streit mit einem enggeistigen Spießer – den Namen darf die Welt ruhig vergessen, finde ich – hatte er durch seine revolutionären Ideen sogar noch die Zensur gegen sich aufgebracht.
Aufklärung gegen religiöses Eiferertum. Der Pastorensohn forderte die Kirche heraus und wurde über Nacht zum Störenfried und Antichrist.
»Der Teufel kam einmal auf Erden/ und wollte gern ein Blankschmied werden/ doch hat er weder Zinn noch Messing/ Drum nahm er den Professor Lessing«,
schimpften die »guten Bürger« Wolfenbüttels. Die spüren, wie wir aus dem Faust wissen, den wahren Mephisto leider selten. Mit dem Nathan konnte der Gescholtene seine Fehde für Toleranz und einem neuen Humanismus weiter führen. Denn es sollte ja »nur« ein Theaterstück werden.
Hinter der Bühne des Staatstheaters
So aufwühlend wie dieser Klassiker, Nathan der Weise ist, so ruhig gehe es hinter der Bühne zu, verrät mir Lukas Pergande vor der Aufführung. Während er mir die Vorgänge erläutert und die vielen Beteiligten vorstellt, die auch für so ein »kleines« Bühnenstück notwendig sind, macht ein Schauspieler Lockerungsübungen und dehnt seinen Rumpf. »Ich muss warm werden«, erklärt er lachend. »Der Regisseur hatte von Anfang an eine genaue Vorstellung von dem, wie das Stück auf die Bühne kommen sollte, und er hat viel Wert auf die Textarbeit gelegt«, verrät der Regieassistent.
Die Inszenierung sei klassisch. So viel hatte ich auch schon in der Braunschweiger Zeitung gelesen – jedenfalls in dem Teil, der im Internet frei einsehbar ist. Klassisch meint in diesem Fall: Der Text ist Lessing. Natürlich werden Stücke bearbeitet. Das war bereits bei der ersten geglückten Aufführung der Fall, die kein geringerer als Friedrich Schiller auf die Bühne brachte. Der Dichter konnte seinen Nathan nicht umgesetzt sehen und hoffte in einem Brief vom 18. April 1779 fast resigniert:
»Es kann wohl sein, daß mein Nathan im Ganzen wenig Wirkung tun würde, wenn er auf das Theater käme, welches wohl nie geschehen wird. Genug, wenn er sich mit Interesse nur lieset, und unter tausend Lesern nur einer daraus an der Evidenz und und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln lernt.«
Was braucht es für Magie auf der Bühne?
Was, wenn er diese Braunschweiger Inszenierung gesehen hätte? Der Zweifel dürfte jedem einzelnen der Zuschauerinnen und Zuschauer an diesem Nachmittag in die Glieder gefahren sein. Mich zog das Spiel von Anfang an in den Bann. Für Magie braucht es nicht mehr als drei Treppen, eine Mauer und Menschen, die nicht durch prachtvolle Kostüme auffallen. Helle Leinengewänder tragen die Schauspielerinnen und Schauspieler, und nur eine Armbinde zeigt an, welcher Religion sie angehören.
Blau steht für die Juden, rot für die Christen, grün für die Muslime. Nur der Raum und die Sprache schlagen eine Brücke in die Zeit, als wir Europäer im Nahen Osten das »Heil der Christen« mit Feuer und Schwert zu verbreiten versuchten. Nathan, ein weiser Jude kommt von einer Reise reich beladen zurück und erfährt, dass seine Tochter Recha von einem christlichen Tempelherren aus dem Feuer gerettet wurde.
Heute wie gestern
Zwischen uns und Lessing liegen viele Generationen. Sprache und Blankvers sind im ersten Moment ungewohnt. Aber das Geschehen, die Konflikte, die dort auf der Bühne ausgetragen werden sind so modern, als hätte Professor Lessing gerade die Tagesschau gesehen und seine Schlüsse daraus gezogen. Die Welt wird durch die gleiche Engstirnigkeit von jenen regiert, die ihren Weg, ihren Glauben, ihre Ideologie für die einzig wahre halten.
Und doch gibt es immer Menschen, die nicht das sind, was »ihre Armbinde« ihnen vorgibt. »Introite, nam et hic Dii sunt«, lässt Lessing sein Werk mit der Zueignung beginnen: »Tretet ein, denn auch hier sind Götter.« In jedem Menschen steckt etwas Göttliches, wenn er über die Grenze seiner äußeren Bestimmung hinausschauen kann. Das gilt für viele Personen in dem Theaterstück. Nicht nur für den Nathan, der dem Sultan mit der Ringparabel erklärt, warum niemand sagen kann, welche die richtige Religion ist.
Menschsein ist mehr
Im Nathan gibt es Weise und Gebrochene in einem. Denn wer ist schon nur ganz gut oder ganz schlecht? Der Derwisch etwa, der Zahlmeister des Sultans, der als Freund des Juden für Aufklärung sorgt. Der Tempelherr, der trotz seiner Abneigung gegen Juden als Mensch handelt. Der Sultan, der dem christlichen Ritter erklärt, dass nicht das Blut die Bestimmung ist und natürlich der weise Nathan selbst, den das Stück aber auch in seiner Schwäche zeigt.
Nur mit wenigen gegenwartssprachlichen Wendungen verwandelt diese Inszenierung des Nathan die Bühne in einen zeitlosen Schauplatz der Suche nach Menschlichkeit. Alles ist rund, alles ist stimmig. Die Ruhe zieht mich immer wieder in das Geschehen hinein, wie die lauten Videoinstallationen, die Gewalt und Terror zeigen und mit denen die Schauspieler eins werden. Ich habe keine Vergleiche, denn bisher hatte ich den Nathan nur gelesen. Insofern kann ich kein Urteil des Kritikers sprechen. Nur dass mich das Ganze getroffen hat, traurig und zweifelnd zurückließ, aber auch hoffnungsvoll, dass wir zwar nicht Nathan gleich werden können. Aber vielleicht ein wenig wie der weise Kaufmann.
Auf, nach Braunschweig
Vor allem aber werde ich dieses Stück noch ein zweites Mal sehen. Diesmal nicht allein, sondern mit Freunden und Familie. Und dann werde ich anschließend eine Rose dort ablegen, wo der Nathan milde auf das Schloss hinblickt. Dass in unserer Stadt so ein Fanal der Menschlichkeit in die Welt gegangen ist, berührt mich doch irgendwie. Eine Rose ist das wenigste, was ich dem Meister zu Füßen legen kann …
Schließlich sollten wir daran arbeiten, dass unsere Träume Wirklichkeit werden – wenn es auch nur ein kleines Bisschen ist, das wir realisieren können. Und wer den Weg mit mir ins Staatstheater findet, um dieses Stück »Made in Wolfenbüttel« zu erleben, schließt sich dem vielleicht sogar an. Danke, Lessing. Danke, Nathan. Und danke allen im Braunschweiger Staatstheater, die dieses wunderbare Stück für uns auf die Bühne gebracht haben.
- Ort: Staatstheater Braunschweig
- Termine: letzte Vorstellung am 29. Januar 2019
- Termine 2020: 15. Februar und 26. Februar 2020
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