Lessing in tausend Worten

Lessing in tausend Worten! Noch einmal tausend!  Aber- und abertausende sind doch schon über ihn geschrieben worden. Dennoch – Dr. Helmut Berthold findet eigene.

Schon bei der Berufsbezeichnung ist es nicht mit nur einem Wort getan: Schriftsteller und Publizist, Kritiker, Gelehrter, Dramaturg und Bibliothekar, das sind nur die wichtigsten.
Er war einer der großen deutschen Autoren, sein Name und seine Lebenszeit verkörpern eine ganze Epoche – die der Aufklärung. Nur wenige Theaterstücke sind häufiger auf deutschen Bühnen zu sehen als Minna von Barnhelm und Emilia Galotti – und Nathan der Weise, natürlich, das Toleranzstück, das Jahrhunderte vor dem Palästinakonflikt, dem 11. September 2001 und dem Schrecken des Islamischen Staats die gegenseitige Achtung und Anerkennung der Religionen gefordert hat. Lessing hat viel für die Toleranz und den Abbau von Vorurteilen getan und sein großes, mit spitzer Feder geschriebenes Werk stammt ganz aus dem Geist der Kritik. Er hat die deutsche Literaturkritik mitbegründet und sich – als ein »Liebhaber der Theologie« – mit der Kirche gestritten. Er war Musterschüler und Überflieger, Bummelstudent und genialer Jungschriftsteller, ein unvergleichlicher Lateiner und bedeutender Altertumskenner – und zugleich ein Spieler vor dem Herrn: Schach, Lotto und das Kartenspiel »Pharo« haben sein Leben und Werk begleitet. Er war Journalist in Berlin, Militär im Siebenjährigen Krieg, Dramaturg in Hamburg, Reisebegleiter in Italien und nicht zuletzt (und nicht immer gern) Herzoglicher Bibliothekar. Um sein Leben zu erzählen, reichen keine tausend Worte.

»Ich habe alle Gründe zu hoffen, daß ich hier recht glücklich leben werde.«

Bleiben wir also in Wolfenbüttel, denn hierher kommen ja viele Besucher auch Lessings wegen. Lessing selbst fand 1770 den Weg aus Hamburg in die kleine Stadt an der Oker mit ihrer berühmten Bibliothek. Dabei wollte er eigentlich nichts als Schriftsteller sein und »allem, was einem Amte ähnlich sieht«, aus dem Weg gehen, doch ließ ihm seine finanzielle Lage keine Wahl. In Hamburg war vieles schief gegangen, das Projekt Nationaltheater ebenso wie ein Verlags- und Druckereiunternehmen. Außerdem empfand er die Berufung an die Herzogliche Bibliothek auch als Auszeichnung. Im Mai 1770 wird Lessing in seine Amtsgeschäfte eingeweiht. Er schreibt: »Ich habe alle Gründe zu hoffen, daß ich hier recht glücklich leben werde«.
Aber ach – daraus ist wenig geworden. Der Hamburger Freundeskreis fehlt ihm doch sehr und Wolfenbüttel ist keine Residenzstadt mehr. Der Hof ist nach Braunschweig gezogen (1753), der Ort verarmt, die Bevölkerungszahl sinkt auf 6.000 Einwohner, fast alle Ämter wechseln nach Braunschweig, Handwerker und Kaufleute kämpfen um ihre Existenz. Und Lessing nimmt, als einziger Bewohner, Logis im leer stehenden, »verwunschenen«, über 300 Räume zählenden Schloss, es ist ein unheimliches Wohnen. Er bezieht zwar ein ordentliches Gehalt und macht zahlreiche Entdeckungen in der Bibliothek, aber im Lauf der Jahre fällt ihm der »Bücherstaub« auch mehr und mehr auf die Nerven, dann sind die Winter unbarmherzig, einsam und lang. Oft flieht der an fehlender Geselligkeit Leidende nach Braunschweig, wo er eine Wohnung angemietet hat, beim Weinhändler und Lotteriebetreiber Angott an der Ägidienkirche.

Lessing-Porträt
Ein Porträt Lessings im Lessinghaus

Im September 1771 verlobt sich Lessing zwar mit der Freundin aus Hamburger Tagen, mit Eva König, jener ausnehmend klugen und lebenstüchtigen Frau, die vier Kinder aus der Ehe mit dem verstorbenen Seidenwarenhändler Engelbert König versorgen muss. Aber in der langjährigen Verlobungszeit (1771 – 1776) sehen sich die beiden nur selten, denn Eva wird durch die komplizierte Geschäftsabwicklung in Wien festgehalten. Schon die ersten Wolfenbütteler Jahre sind also schwierig für Lessing, und man sollte sich ihn nicht nur als glücklichen Menschen vorstellen. Vielmehr führen Vereinsamung, aufwendige bibliothekarische Arbeit, ein angespanntes Verhältnis zum Hof und gesundheitliche Probleme oft zu Verdruss und Lebensekel.
Im Winter 1771/72 schreibt er im Schloss die berühmte Emilia Galotti, ein hofkritisches Stück, das im März 1772 in Braunschweig aufgeführt wird – in Abwesenheit des Verfassers, der angeblich an Zahnweh leidet. Manchmal führt sein Bedürfnis, »unter Menschen« zu kommen, ihn ins Große Weghaus in Stöckheim; dort auf halber Höhe zwischen Wolfenbüttel und Braunschweig, trifft er sich mit den Freunden des Collegiums Carolinum, dort sind ihm Abwechslung und Zerstreuung vergönnt und natürlich wird auch angelegentlich ein Tropfen getrunken.
Nicht selten denkt Lessing auch an Flucht: »»Wenn ich noch der alte Sperling auf dem Dache wäre, ich wäre schon hundertmal wieder fort.«
Am liebsten nach Italien. Als er 1775 von Wien aus tatsächlich eine Italienreise antritt, geschieht dies freilich als Begleiter des jungen Prinzen Maximilian Julius Leopold von Braunschweig, und aus der auf wenige Wochen anberaumten Reise wird eine acht Monate dauernde, planlos von Ort zu Ort eilende Kavalierstour, die Lessing nur wenig Zeit für eigene Reiseeindrücke, kunsthistorische Interessen und persönliche Entdeckungen lässt. Dabei war nun endlich der Weg zur Heirat mit Eva König frei.
Immerhin, im sechsten Wolfenbütteler Jahr, gewährt ihm der Hof die Aufstockung des Salärs auf 900 Taler und die Erlassung aller Vorschüsse, denn mit Geld konnte Lessing herzlich schlecht umgehen. Am 8. Oktober 1776 heiratet er Eva König in York bei Buxtehude. Mit drei ihrer vier Kinder aus erster Ehe bezieht er eine Wohnung im Meißnerhaus am Schlossplatz, und nun, tatsächlich, beginnt für ihn ein glückliches und langes Jahr. Erst im Dezember 1777 zieht die Familie in das heute als Lessinghaus bekannte Schäffersche Haus. Dort wird am 25. Dezember der Sohn Traugott geboren, der nicht länger als 24 Stunden lebt, zwei Wochen später stirbt auch Eva Lessing. Niemals hat Lessing sich davon erholt.

»Wenn ich noch der alte Sperling auf dem Dache wäre, ich wäre schon hundertmal wieder fort.«

Die ihm verbleibenden drei Jahre stehen im Zeichen religiöser Querelen. Mit dem sogenannten Fragmentenstreit trägt Lessing die aufsehenerregendste theologische Kontroverse im Deutschland des 18. Jahrhunderts aus, doch bezahlt er dafür auch mit seelischer und leiblicher Zerrüttung sowie der Aufhebung der Zensurfreiheit. Aus der Kontroverse um religiöse Dogmen und Vernunftwahrheit wird Nathan der Weise entstehen, andere Hauptwerke der letzten Lebensjahre sind die Freimaurergespräche Ernst und Falk und der geschichtsphilosophische Versuch Erziehung des Menschengeschlechts. Allein die Abhandlungen über Nathan der Weise haben abertausende von Seiten mit Druckerschwärze gefüllt. Was für ein mutiges Schauspiel! Im sogenannten ›Dritten Reich‹ durfte es nicht gespielt werden, heute aber füllt es die Theater der Welt. Es ist ein Märchen in praktischer Absicht, eine Fabel der Humanität, ein Plädoyer für Toleranz in Glaubensfragen. Nicht zufällig spielt es im Jerusalem des Dritten Kreuzzugs (1189 – 1192), als die großen Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam aufeinandertreffen.
Die Aufführung dieses Stückes hat Lessing nicht mehr erlebt. Er stirbt am 15. Februar 1781 in seinem Braunschweiger Domizil und wird auf dem dortigen Magnifriedhof begraben. Sein Geist ist frei und lebendig geblieben, und davon weiß man heute nicht allein in Wolfenbüttel.

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