Altstadt

Entdeckt!

Und nachgefragt: bei Hans Mai, der als Denkmalschützer nicht nur pittoreske Schönheiten im Fokus hat.

Was macht unsere Fachwerkstadt Wolfenbüttel so besonders?
Das Wolfenbütteler Stadtbild wird wegen der Schönheit der einzelnen herausragenden Bauwerke – BMV, Trinitatiskirche, Schloss, Rathauskomplex etc. geschätzt. Auch der noch vorhandene Gesamt­eindruck in der »Alten Heinrichstadt«, »Neuen Heinrichstadt« und »Dammfestung« trägt dazu bei. Oder die Vielzahl und Vielfalt von Schmuckformen und Schnitzkunst an den zahlreichen Fachwerkwohnhäusern von hochrangigen Hofbeamten des 16./17. Jahrhunderts. Oder die stilistisch einfacheren Fachwerkhäuser der Handwerker, die im Quartier »Krumme Straße« stehen, die liebevoll auch als »Buden«, im Sinne von kleinen Häusern bezeichnet werden.
Während der Regierungszeit Heinrich Julius (1589–1613), entstand Wolfenbüttel planmäßig am Reißbrett. Neben den Prachtbauten der Hofbeamten in der Reichstraße und dem ab 1608 begonnenen Bau der Marienkirche (BMV), des ältesten Großbaus des Protestantismus, fällt eine starke barocke Veränderung der Stadt und auch die Barockisierung vorhandener Renaissance-Fachwerkhäuser auf.
Die zahlreichen Fachwerkhäuser der Stadt zeigen authentisches Fachwerk. Auf dem Stadtmarkt stehend, bietet sich dem Betrachter, wenn er sich einmal um die eigene Achse dreht, ein Baugeschichtsbuch im Maßstab 1:1. Von der Renaissance über Barock, Klassizismus bis zum Historismus des 19. Jh. und bis zur Gegenwart des 21. Jh. der Moderne/Postmoderne, stehen die Prachtbauten nebeneinander.
Hier entstand 1602, unter Einsatz aller verfügbarer Mittel der Renaissance-Baugeschichte, ein Fachwerk-Rathauskomplex. Es ist eines für die Region bedeutendes Belegstück für Fachwerk- und Innengestaltung aus der Übergangszeit von der Renaissance zum Barock.
Im niedersachsenweit größten Fachwerkschloss residierten die Welfen-Herzöge 300 Jahre lang, bis die Residenz unter Herzog Karl I. (1753 – 1754) an den Hof nach Braunschweig verlegte wurde. Neben dem Schloss stehen das Kleine Schloss sowie zahlreiche Hofbeamtenhäuser, darunter das »Lessing Haus« und »Anna Vorwerkhaus«, allesamt in bester Eiche als Fachwerkhäuser errichtet. Gleich daneben finden sich (in massivem Feldstein) das Zeughaus und die weltbekannte »Herzog August Bibliothek«, mit ihrer zweitgrößten Handschriftensammlung des Mittelalters in Deutschland.

Wie viele Fachwerkhäuser gibt es und aus welchem Jahrhundert stammen sie?
Zählen wir die Parzellen der Grundstücke (und damit in der Regel die an der Straße stehenden Fachwerkhäuser), so gibt es in der Altstadt ca. 600 Fachwerkhäuser. Zählen wir sämtliche Baudenkmale der Stadt, so erhalten wir 1.193 Objekte. Allerdings kann ein Objekt aus Vorderhaus, Hinterhaus und Seitenflügel bestehen. Dadurch erhöht sich die Anzahl der Fachwerkhäuser erheblich, sodass wohl mehr als 1.000 Fachwerkhäuser in dieser Stadt stehen. Die meisten wurden vom 16. bis Mitte des 18. Jahrhunderts errichtet. Zum Stillstand der Bautätigkeit kam es im 30-jährigen Krieg; danach (ab 1643 bis 1700) explodierte diese und währte bis zum Abzug der Herzöge nach Braunschweig (ca. 1750).
Sehenswert: Das Gebäude am Schlossplatz 17 ist datierbar auf das Jahr 1535 (ausgehende Spätgotik). Landesweit selten, hat Wolfenbüttel ein Fachwerkhaus im Stil des »Art Deco« von 1910 an der Langen Herzogstraße 12/Bärengasse.

Welche Schmuckformen der Schnitzkunst kann man an unseren Fachwerkhäusern entdecken und welches ist Ihr Lieblingsspruch?
Knaggen an den Fachwerkhäusern wurden eingebaut, um die Last der auskragenden Obergeschosse abzufangen. Setzschwelle und Giebelschwellen als horizontaler Lastbalken um die Ständer der Fassade aufzunehmen. Streben und Fußdreieckspaare, das sind kurze Streben, um dem Fachwerkgefüge seitliche Stabilität zu verleihen. Diese Konstruktionshölzer wurden aus dem Schiffsbau übernommen. Die Bauteile wurden häufig gestaltet, wobei die Auswahl der Motive bezeichnend ist für die jeweilige Baukunst, in der sie verwendet wurden. Die Setzschwellen und Giebelschwellen wurden während der Renaissance mit Laubstäben, gedrehtem Tau, Perl- und Blumenschmuck, Fächerrosetten und Fabelwesen verziert oder mit Motiven aus der Schmiedekunst, dem »Beschlagwerk.« Häufig wurden die Obergeschoss-Schwellen dazu verwendet, um Balken-Inschriften anzubringen, die auch Rückschlüsse über die Gesinnung der Bauherrschaft zulassen. Häufig sind Motive, die Wünsche, Ängste oder Hoffnungen ausdrücken. Die Schmuckmotive zeigen den Reichtum der Besitzer an. Dabei kann die Fratze an der Eckknagge angelegt sein, um Neider oder »Böse Geister« abzuhalten, der »Lebensbaum« (sicher ein christliches Motiv mit Blick auf die Zusage des Lebens in der Ewigkeit), Psalmen aus der Bibel, schlichte Lebensweisheiten oder Hinweise auf die Hausbesitzer und Baujahr.

Mein Lieblingsspruch …
… befindet sich am Fachwerkhaus Harzstraße 7, Ecke Lustgarten, aus dem Jahre 1693. Auf dem Türsturz ist die Inschrift in Plattdeutsch eingestemmt, übersetzt steht dort aus dem Psalm 121 »Der Herr behüte deinen Ein- und Ausgang« und auf der Schwelle des Obergeschosses aus dem Kirchenlied »Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das deine nur getreu und trau des Himmels reichen Segen, so wird er bei dir werden neu. Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht.«

Schiefe Balken – haben Wohnräume dahinter ein entsprechendes Gefälle?
Die Schiefstellung der Fachwerkhäuser lässt sich häufig auf den sumpfigen Baugrund der ursprünglichen Okerniederung in dem Gebiet der Altstadt zurückführen. Starke Absackungen und Verformungen waren die Folge. Am Gebäude Krumme Str. 60 betrugen die Höhenunterschiede bis zu 0,90 m. Die Räume hatten ebenfalls schiefe Fußböden, die immer wieder aufgedoppelt wurden, ein neuer Fußboden wurde auf dem vorherigen Bestand verlegt, um eine waagerechte Ebene zu erhalten. In einem Gebäude in der Maurenstr. 1/2 war die Rückfassade soweit abgesackt, dass die Raumhöhe von 2,20 m im straßenseitigen Obergeschoss bis zur Hofseite nur noch 1,55 m betrug – und vor der Sanierung immer noch als Kinderzimmer genutzt wurde. Beim schmalsten Wohnhaus in Wolfenbüttel, im Kleinen Zimmerhof 15, wurde bei der Sanierung die Schiefstellung durch den Einbau eines neuen Treppenturms in der Gebäudemitte aufgehoben. Die vorderen Räume zur Straßenseite sind mit zwei bis drei Stufen tiefer und die Räume zur Hofseite mit zwei bis drei Stufen höher zu erreichen.

Warum gehen die Fenster in den Fachwerkhäusern nach außen auf?
Das Original Braunschweiger Kreuzstockfenster mit Anschlag und Verschlusstechnik gehört zu einer Summe vieler weiterer Details an den Fachwerkhäusern und ihrer Umgebung, wie auch die Straßen und Plätze, die das Weichbild der Altstadt von Wolfenbüttel bestimmen.
Ein Spaziergang durch die Altstadt von Wolfenbüttel bei sommerlicher Temperatur macht deutlich, wie durch dieses Detail nach außen offenstehender Fenster ein historisches Weichbild entsteht, wenn die Fensterflügel durch Licht und Schatten die Fachwerkfassaden beleben.
Fenster sind wesentliche Funktions- und Gestaltungselemente des Hauses. Sie verdeutlichen den sozialen Stand der jeweiligen Bauherren, das gestalterische Wollen und die handwerklichen Möglichkeiten der Erbauungszeit. Die Aufschlagrichtung nach außen rührt von den noch nicht bekannten und fehlenden Dichtungen her. Die Flügel hatten im Rahmen keine umlaufenden Dichtungen, sondern lediglich einen Falz. Bei starkem Wind und Regen wurden die Fenster in den Falz dicht gedrückt.

Prinzenpalais und Kleines Schloss – was haben die Häuser mit Fachwerk zu tun?
Nach 1590 wurde das Fachwerkhaus in der Reichstr. 1 errichtet. Mit dem Ankauf an das Herzoghaus 1731 erfolgte dann die Errichtung der Zimmersuite zur Brauergildenstraße, durch keinen geringeren als den bedeutenden barocken Baumeister Hermann Korb. Das sogenannte »Kleine Schloss« wurde im Jahre 1643 als Wohnsitz für den Erbprinzen Rudolf August ebenfalls mit stattlichem Treppenhaus und festlichem Saalbau hergerichtet. Nach dem Regierungsantritt von Rudolf August (1666), bezog Herzog Anton Ulrich das Kleine Schloss. Beiden Fachwerkhäusern ist gemeinsam, dass in bestehenden Fachwerkbauten im 18. Jh. (während der höfischen Nutzung) Umbauten im Stile der Zeit vorgenommen wurden, um sie zu Fachwerkprachtbauten herzurichten. Beiden wurde die typische monochrome Außenfarbigkeit aufgetragen. Sie sind in der Fachwerkstadt herausragende Beispiele eines sogenannten »Barocken Anstrichs« der barock-höfischen Baukunst.
Denn die Errichtung von Steinbauten war zu kostspielig und der sumpfige Baugrund in der Altstadt ungeeignet: er erforderte für schwere Bauten eine aufwendige Tiefgründung.
Daher begann man um 1700 Fachwerkhäuser zu überstreichen oder zu verputzen, um den Eindruck von Steinbauten hervorzurufen. Auskragungen der Obergeschosse wurden aufgegeben. Strenge Gliederungen der Fassaden nach Fensterachsen, mittige Zwerchhäuser oder Risalite (vorspringende Gebäudeteile) wurden angeordnet.

Wohnen in einem Altbau, ist das sinnvoll? Bitte nennen Sie uns drei Gründe, warum man unbedingt mal in einem Fachwerkhaus gelebt haben sollte.
Häuser haben auch etwas, das sich nicht beschreiben lässt, aber erlebbar ist, eine »Atmosphäre«, die aus Raumaufteilung, Lichtführung, Fenster und Baustoffen entsteht. Im Fachwerkhaus ergibt sich aus den Komponenten ein spezieller Eindruck. Vielleicht knarren die Dielen – das wird den einen abschrecken, den anderen anheimeln. Oder die Blickachse durch die Sprossenfenster erzeugt ein bestimmtes Gefühl, welches der eine als angenehm, der andere als unangenehm empfindet. In einem Altbau zu wohnen, wer sich darauf einlässt, sollte sich mit dem Gebäude und seiner Geschichte identifizieren, erst danach kann man es gewissermaßen auch lieben und schätzen. Alte Häuser können viele spannende Geschichten über sich selbst erzählen, Geschichten von Menschen, die darin wohnten, ihren Schicksalen. Denn in ihnen haben oft viele Menschen gelebt, sind vielleicht sogar darin geboren oder gestorben und haben Notzeiten überlebt. Überall findet man Geheimnisse: in Ritzen, im Keller oder auf dem Dachboden, manchmal auch kleine Schätze.

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